Der internationale KI-Wettlauf hat in den letzten drei Jahren stark an Tempo gewonnen. Hat Europa noch Chancen aufzuholen – oder sogar zu führen?
Diese war eine der Fragen auf der Latitude59 in Tallinn, einer der wichtigsten Tech- und Startup-Konferenzen Europas. Ende Mai trafen sich dort Gründer, Investoren, Politiker und Vordenker aus über 70 Ländern, um über Künstliche Intelligenz, digitale Souveränität und Europas strategische Chancen zu sprechen.
Der Livepodcast „The European AI Edge“ (Europas KI-Vorsprung) mit Alois Krtil (ARIC und PINKTUM, Hamburg), Kirke Maar (AI & Robotics Estonia) und Mikael Ljungblom (AI Sweden) liefert dazu wichtige Antworten:
Die Ressourcen nutzen
Alois Krtil betonte Europas Werte, Talente und die Chance, KI menschenzentriert zu gestalten und dies als Wettbewerbsvorteil zu nutzen. Viele kluge Köpfe in den großen US-Tech-Firmen stammten aus Europa, dieses Potenzial müsse zurückgewonnen werden. Ein Schwachpunkt wurde klar benannt: die mangelhafte Umsetzung guter Forschung in die Praxis. „Wir müssen das klassische Thesenparadigma durchbrechen und Studierende an Validierungsprojekte in Unternehmen heranführen“, sagte Kirke Maar. Die Universitäten sollten handlungsorientierter wirken, damit die Gesellschaft besser profitiere. Auch Mikael Ljungblom forderte „kürzere, flexiblere Innovationszyklen.“
Vernetzte Ökosysteme
Alois Krtil warb für mehr grenzüberschreitende Kooperation. Europa verfüge zwar über eine kritische Masse von 450 Millionen Menschen, handele aber zu oft national. Dennoch sieht er gerade darin eine Chance: „Wenn die Mitgliedstaaten dem Beispiel derjenigen folgen, die schneller sind – zum Beispiel Estland – könnten wir die Fragmentierung zu unserem Vorteil nutzen.“ Mutige, regionale Piloten sollen zur Transformation beitragen.


Mario Sauder, Deutsche Botschaft Tallinn
„In Estland herrscht eine gute Kombination aus Innovationsfreundlichkeit, Technologieoffenheit und Smartness. Hier werde Dinge probiert, mit einem klaren Ziel, an dem man dranbleibt, ohne aber direkt das komplett fertige Produkt im Kopf haben zu müssen.“
Carsten Bode, Unternehmer und Investor
„Die Reise nach Tallinn war inspirierend. Meine persönlichen Highlights: Vorträge zu Agentic AI und die Erkenntnis, wie digitalisiert Estland bereits ist und mit welcher Geschwindigkeit sich das Land weiterentwickelt.“
Christian Steinberg, Investor
„Die Esten sagen, wir sind eine starke Gemeinschaft, wir bringen unser Land ganz weit nach vorne und sind bereit, mit jedem in der EU zu teilen. Und darum geht es jetzt, unsere Kräfte zu bündeln.“

„Nie auf die Lösungen von gestern verlassen“
Auf der Tech-Konferenz Latitude 59 sprachen wir mit dem schwedischen Technologie-Strategen Mikael Ljungblom darüber, was Europa braucht, um sein digitales Potenzial zu entfalten und warum unsere nordeuropäischen Nachbarn hierbei so erfolgreich sind. Mikael Ljungblom ist Direktor für öffentliche Politik und internationale Beziehungen bei AI Sweden, der nationalen Initiative Schwedens zur Förderung der Nutzung von Künstlicher Intelligenz (KI) in Industrie, Wissenschaft und Gesellschaft.
Schön, dich hier in Tallinn zu sehen. Was nimmst du als wichtigste Eindrücke von der Konferenz mit?
Hier herrscht immer eine besondere Dynamik – Menschen aus aller Welt kommen zusammen, und man spürt einen positiven Aufbruch. Das gefällt mir sehr. Nach Estland zu kommen, ist jedes Mal ein Gewinn.
Estland gilt international als Vorreiter im Bereich der Digitalisierung und schreitet im Bereich Künstliche Intelligenz ambitioniert voran. Was machen Start-ups, Investoren und Institutionen hier besonders gut?
Diese Haltung, sich ständig weiterzuentwickeln, nie stehenzubleiben, nie auf den Lösungen von gestern zu verlassen. Das ist inspirierend. Der Rest Europas sollte sich davon deutlich mehr abschauen. Immer auf den nächsten Technologiesprung vorbereitet sein, offen sein für Veränderungen, sich flexibel auf neue Rahmenbedingungen einstellen – das ist entscheidend. Als kleines Land ist Estland gewissermaßen gezwungen, sich global anzupassen. Und genau das ist eine große Stärke.
Wir erleben aktuell eine enorme Innovationswelle im Bereich KI. Wo siehst du die größten Chancen durch die neuen Technologien?
Die Chancen sind vielfältig und betreffen praktisch alle Bereiche, auch den öffentlichen Sektor: etwa das Gesundheitswesen, die Bildung oder die Art, wie staatliche Leistungen erbracht werden. Das Potenzial ist riesig. Europa hat bereits viele starke globale Unternehmen. Diese müssen KI künftig viel konsequenter integrieren, um effizienter und wettbewerbsfähiger zu werden.

Im Panel mit Alois Krtil hast du über Europas Wettbewerbsfähigkeit im globalen Technologie- und KI-Rennen gesprochen – ein Thema, das schon länger diskutiert wird. Wenn du auf das vergangene Jahr zurückblickst: Holt Europa auf?
Ich habe den Eindruck, dass in Brüssel, also auf EU-Ebene, mittlerweile ein echtes Bewusstsein dafür entstanden ist: „Das ist jetzt ernst.“ Die Dinge verändern sich rasant – und wir müssen mit neuen Ansätzen darauf reagieren. Dieses Umdenken ist für mich die größte Veränderung gegenüber dem Vorjahr. Was die konkreten Ergebnisse angeht – das bleibt abzuwarten. Aber der erste notwendige Schritt ist getan: Die Einsicht, dass Regulierung allein nicht reicht. Wenn wir wirklich wettbewerbsfähig sein wollen, müssen wir auch aktiv gestalten.
Nordeuropa gilt als Vorbild in Sachen Bildung. Wie wird KI hier in diesem Kontext betrachtet?
Estland liegt bei den PISA-Ergebnissen europaweit an der Spitze. In den nordischen Ländern leben wir in relativ homogenen Gesellschaften mit einer hohen Technikaffinität – das hilft enorm. Neue Technologien stoßen in der Regel kaum auf Widerstand, selbst bei älteren Generationen, würde ich sagen – zumindest im Vergleich zu anderen Ländern. Das ist ein klarer Vorteil, den wir in Skandinavien und im Baltikum gemeinsam haben.